Interview Prof. Volker Quaschning: Energiewende Thüringen
Der Klimawandel ist spürbar, dennoch stockt vielerorts der Ausbau der erneuerbaren Energien: Energieexperte Volker Quaschning und ThEGA-Geschäftsführer Dieter Sell diskutieren, wo die Energiewende in Deutschland und Thüringen steht und was besser werden muss.
Herr Professor Quaschning, Thüringen ist bekannt für Wartburg, Rennsteig und Kochkunst. Woran denken Sie als Erstes beim Thema Energiewende und Thüringen?
Quaschning: Thüringen ist prädestiniert, ein Vorreiter der Energiewende zu sein. Durch seine ländliche Struktur kann es auf Windenergie und Biomasse setzen. In einer Stadt wie Berlin geht es nur um Solarenergie. Für Windräder ist kein Platz. Deswegen finde ich es schade, wenn Windenergie-projekte am Widerstand von wenigen scheitern.
Der Ausbau der Windenergie und die Energiewende sollten in Deutschland nach der Atomkatastrophe von Fukushima 2011 richtig Fahrt aufnehmen. Wie fällt Ihr Zwischenzeugnis für die Energiewende aus?
Volker Quaschning
Volker Quaschning (51) ist seit 2004 Professor für Regenerative Energiesysteme an der HTW Berlin. Der Buchautor und Mitinitiator von Scientists for Future informiert auf seinem YouTube-Kanal und als Redner über Energie- und Klimaschutzthemen. Er sagt: „Wir haben das Geld und die Technik, um bis 2040 klimaneutral zu sein. Wir müssen den Schalter im Kopf umlegen und die Politik ändern.“
Quaschning: Im Zeugnis würde ich schreiben: Die Beteiligten haben sich stets bemüht. Es gibt einige Erfolge, aber wir sind zu langsam. Das Auto „Klimaschutz“ ist gestartet und es fährt nicht mehr in die falsche Richtung wie noch vor 15 Jahren. Aber statt Tempo 120 fahren wir 30. So werden wir unser Ziel – die Begrenzung der Erderwärmung auf 1,5 Grad – niemals rechtzeitig schaffen.
Herr Professor Sell, welche Note geben Sie der Energiewende in Deutschland?
Sell: Auch ich würde die Note ausreichend vergeben. Im Strombereich passiert viel. Bei den Gebäuden und im Verkehr tun wir uns schwer.
Bei begleitenden Maßnahmen wie dem Tempolimit kommen wir auch nicht richtig voran – obwohl eine Mehrheit der Deutschen dafür ist.
Fällt die Zwischenbilanz für Thüringen besser aus?
Sell: Thüringen hat ehrgeizige Ziele und befindet sich auf dem richtigen Weg. Seit 2018 haben wir ein Klimagesetz: Bis 2050 wollen wir klimaneutral werden und unseren Energiebedarf bis 2040 bilanziell komplett aus Erneuerbaren decken. Um das zu schaffen, wünsche ich mir an manchen Stellen mehr Mut und Entschlossenheit. Es gibt zum Beispiel nur wenige Solar- oder Windenergieprojekte, von denen Thüringer*innen direkt profitieren.
Wie lässt sich das ändern?
Sell: Etwa durch eine Änderung des Thüringer Planungsprozederes. Es gibt Signale, dass sich hier etwas bewegt. So können wir es Thüringer Kommunen erleichtern, Windenergie in Eigenregie zu erzeugen.
Gibt es bei der Energiewende Unterschiede zwischen Ost und West?
Quaschning: Es gibt Unterschiede – aber nicht zwischen Ost und West, sondern zwischen Nord und Süd sowie zwischen Alt und Jung. In Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern sieht es zum Beispiel mit der Akzeptanz von Windenergie etwas besser aus. Schwieriger wird es, je weiter man nach Süden schaut. Energiewende heißt auch: Abschied von Gewohntem – zum Beispiel vom Verbrennungsmotor oder der Ölheizung. Jungen Menschen fallen solche Veränderungen meist leichter als älteren.
Unsere Stromversorgung wird immer grüner: 2000 kamen 6 Prozent unseres Stromverbrauchs aus regenerativen Quellen. 2019 waren es bereits 42. Warum ist der Ausbau der Erneuerbaren weiterhin wichtig?
Quaschning: Wenn wir nicht nur auf den Strom schauen, sondern Verkehr und Gebäude berücksichtigen, liegt der Anteil der Erneuerbaren nicht einmal bei 20 Prozent. Das heißt: Über 80 Prozent unserer Energie sind noch nicht erneuerbar. Wir müssen aber in 15 bis 20 Jahren bei 100 Prozent sein, wenn wir das Pariser Klimaschutzabkommen erfüllen wollen. Deswegen ist ein weiterer Ausbau wichtig und das Tempo muss stark erhöht werden.
Wie läuft der Ausbau der erneuerbaren Energien in Thüringen?
Sell: Thüringen importiert heute etwa die Hälfte seines Stroms. Bis 2040 wollen wir uns aber komplett über alle Sektoren hinweg mit Erneuerbaren versorgen. Das Potenzial ist vorhanden und es ist politisch gewünscht. Das ist wichtig. Beim aktuellen Ausbautempo – besonders bei der Windenergie – wird es allerdings schwer, dieses Ziel zu erreichen. Zumal viele Windanlagen demnächst aus der EEG-Förderung fallen und oft nicht weiterbetrieben werden können.
Mit Strom aus Windkraft soll künftig grüner Wasserstoff hergestellt werden. Das Gas wird immer mehr zum Hoffnungsträger der Energiewende. Zu Recht?
Quaschning: Die Wasserstoffstrategie der Bundesregierung hat mit einer wirklichen Strategie wenig zu tun. Das Herstellen von Wasserstoff ist ineffizient und teuer. Ein batteriebetriebener Elektromotor hat einen Wirkungsgrad von über 80 Prozent. Wasserstoff liegt weit unter 50 Prozent. Um diese Effizienzverluste auszugleichen, bräuchten wir künftig doppelt bis dreimal so viele Solar- und Windenergieanlagen für die Wasserstoffproduktion. Als Alternative schlägt die Politik vor, Wasserstoff zu importieren. Es ist allerdings nicht klar, woher, zu welchem Zeitpunkt und zu welchem Preis.
Gibt es Bereiche, in denen Wasserstoff dennoch eine sinnvolle Alternative sein kann?
Quaschning: Wir werden Wasserstoff dort brauchen, wo es keine Alternativen gibt: für die saisonale Speicherung von Strom, für das klimaneutrale Umrüsten von alten Schiffen, Flugzeugen und LKWs oder im industriellen Bereich, etwa bei der Stahlherstellung. Im Mobilitäts- und Gebäudebereich wird Wasserstoff ein Nischenprodukt bleiben, weil es günstigere Alternativen wie das Elektroauto oder die Wärmepumpe gibt.
Sell: Als Landesenergieagentur sagen wir: Wer Ja sagt zu Wasserstoff, muss auch Ja sagen zum Ausbau der Windenergie. Anders funktioniert es nicht. In Norddeutschland sollen Windenergieanlagen gar nicht mehr ans Netz gehen, sondern der erzeugte Strom soll exklusiv für das Herstellen von Wasserstoff genutzt werden.
Dieter Sell
Dieter Sell (59) leitet seit 2011 die Landesenergieagentur ThEGA und ist seit 2016 deren Geschäftsführer. Zuvor war der promovierte Biologe für die DECHEMA in Frankfurt am Main tätig. Die Leibniz Universität Hannover ernannte ihn 2010 zum außerplanmäßigen Professor für Technische Chemie. Er ist sich sicher: „Ohne den Ausbau von Wind- und Solarenergie ist eine erfolgreiche Energiewende nicht umsetzbar.
Quaschning: Das sind meist öffentlich subventionierte Projekte. Auf dem freien Markt wird es dieser Wasserstoff schwer haben, da er etwa fünf Mal so teuer ist wie beispielsweise Diesel.
Jedes heute produzierte Auto belastet das Klima im Schnitt weniger als vor 25 Jahren. Dennoch steigen die Emissionen im Verkehrssektor. Woran liegt das?
Sell: Die technischen Verbesserungen bei der Abgastechnik und Kraftstoffqualität werden durch ein Mehr an Autos und LKWs aufgehoben. Wir brauchen einen zügigen Umstieg vom Verbrenner auf den Elektromotor und wir müssen über verkehrsvermeidende Siedlungs- und Verkehrsplanung reden sowie die entsprechende Infrastruktur schaffen. In Thüringen hat das gut geklappt: Gemeinsam mit den Stadtwerken und der TEAG haben wir in den letzten drei Jahren ein Ladesäulennetz mit über 700 Ladepunkten installiert.
Quaschning: Es liegt ein gewisser Sex-Appeal in der Elektromobilität, weil E-Autos mehr Fahrkomfort und mehr Fahrspaß versprechen. So lassen sich Leute für E-Autos begeistern, für die ökologische Gründe beim Kauf nicht entscheidend sind. Ein heute gekauftes Auto fährt im Schnitt 15 bis 20 Jahre. Wollen wir die Pariser Klimaschutzziele erreichen, dürften wir darum eigentlich gar keine neuen Benzin- und Dieselautos mehr zulassen. Langfristig muss es ohnehin Ziel sein, die Gesamtzahl der Autos deutlich zu verringern.
Wie soll das gelingen?
Quaschning: In Städten kann uns das selbstfahrende Auto helfen, weil es mehrere Personen nutzen können und man überall aus- und zusteigen kann. Vor allem müssen wir aber die Alternativen zum Individualverkehr wie Bahn, Bus und Fahrrad stärken und das Autofahren vor allem in den Städten weitgehend unattraktiv machen.
Gebäude haben einen großen Anteil an den Treibhausgasemissionen Deutschlands. Wie lassen sich diese Potenziale heben?
Quaschning: Die gute Nachricht: Die Emissionen im Gebäudebereich sind in den vorigen Jahren deutlich zurückgegangen. Das Problem: Die Sanierungsrate ist zu gering. Uns läuft die Zeit davon. Pragmatisch gesehen hilft es uns am schnellsten, wenn wir den Einbau neuer Öl- und Gasheizungen verbieten. Elektrische Wärmepumpen sind eine gute Alternative. Dafür brauchen wir allerdings genügend Strom aus erneuerbaren Energien.
Wie sieht ein zukunftsfähiger Wärmemix für Thüringen aus?
Sell: Viele Städte in Thüringen verfügen über Anschlüsse ans Wärmenetz. Diese umweltschonende Form der Wärmeversorgung sollte weiter genutzt und ausgebaut werden – am besten mit Wärme aus Wasserstoff, Methan aus Biogasanlagen, Solarthermie oder elektrisch mit Wärmepumpen. Die Herausforderung ist der ländliche Raum, wo es keine Wärmeleitungen und viele Ölheizungen gibt. Dort sind wir als ThEGA aktiv, um alternative Versorgungsmodelle zu entwickeln. Etwa durch Holz aus dem eigenen Wald oder Biomasse aus der Landschaftspflege.
Mehr Elektromobilität, mehr Wasserstoff, mehr Wärmepumpen – das alles wird den Stromverbrauch in Deutschland erhöhen. Gleichzeitig steht bis 2022 der Atomausstieg an und der Ausbau der Erneuerbaren stockt. Ist unter diesen Bedingungen ein baldiger Kohleausstieg realistisch?
Quaschning: Die Kernenergie wird überschätzt. Ihr Anteil an der Stromerzeugung liegt in Deutschland im einstelligen Prozentbereich. Es wird künftig so sein, dass wir unseren Strom tagsüber zu hundert Prozent aus Erneuerbaren herstellen. Die Kernenergie hilft uns beim Überbrücken der Nacht nicht weiter, da sich Kernkraftwerke nicht an- und ausschalten lassen. Wir brauchen mehr Speicherkraftwerke, mehr Speicher und mehr Solar- und Windenergie.
Sell: Bei den Speichern ist Thüringen eigentlich gut aufgestellt. Wir besitzen etwa ein Viertel der Pumpspeicherkapazitäten Deutschlands. Doch dieser Bereich klagt, dass deren Geschäftsmodell nicht mehr funktioniert. Die Strompreisschwankungen zwischen Zeiten hoher und niedriger Nachfrage sind zu klein. Pumpspeicher lassen sich deshalb kaum noch wirtschaftlich betreiben.
Quaschning: Ich habe Hoffnung, dass diese Schwankungen mit dem Ausstieg aus Kohle und Kernenergie wieder zunehmen. Zusätzlich sollte der Gesetzgeber mit Förderungen helfen, weil wir für eine erfolgreiche Energiewende dringend Speicher brauchen.
Durch die Corona-Krise wird Deutschland sein Klimaziel für 2020 – 40 Prozent weniger Emissionen gegenüber 1990 – vermutlich erreichen. Ist das eine gute Nachricht?
Quaschning: Mir tut es leid, dass wir unser Klimaschutzziel auf diese Weise erreichen. Es ist nicht das Ergebnis einer kontinuierlichen Entwicklung, sondern eine einmalige Delle infolge der Corona-Pandemie. Für den Klimaschutz bringt uns das nichts. Im Gegenteil: Wir merken nicht, wie radikal wir unsere Klimaziele verfehlen.
Lässt sich dennoch aus der Corona-Krise etwas für den Klimaschutz lernen?
Quaschning: Wir wissen jetzt, wie schnell radikale Veränderungen möglich sind und dass diese sogar Vorteile bieten. Derzeit jetten wir nicht mehr für ein kurzes Meeting nach München oder Hamburg und merken, dass uns das auch Zeit und Stress erspart. Und wir sehen: Politiker*innen, die mit mutigen Maßnahmen vorneweg gehen und diese gut kommunizieren, werden mit starken Umfragewerten belohnt. Vielleicht hilft das der Politik, diesen Mut auch in der Klimakrise aufzubringen.
Sell: Wenn sich Menschen – wie bei Corona – persönlich bedroht fühlen, sind sie schneller bereit, etwas zu ändern. Ähnliches geschieht gerade beim Klimawandel: Die vergangenen drei Sommer waren zu heiß und zu trocken. Der Thüringer Wald ist in einem schlimmen Zustand. Die Auswirkungen des Klimawandels werden greifbarer. Das bringt viele zum Nachdenken. Es wird für viele immer deutlicher, dass sich unser bisheriges Leben verändert. Wie stark – das haben wir mit unserem Verhalten in der Hand. Zumindest noch.
Herr Quaschning, die ThEGA feiert zehnjähriges Bestehen. Welche Rolle spielen die fast 40 regionalen und lokalen Energieagenturen für die Energiewende?
Quaschning: Sie können bei den Menschen vor Ort ein Bewusstsein für die Folgen des Klimawandels schaffen und zeigen, was wir tun können, um das Klima zu schützen. Zusätzlich sind Energieagenturen mit ihrem Fachwissen der ideale Partner, um lokalen Akteuren beim praktischen Umsetzen der Energiewende unter die Arme zu greifen.
Angenommen, Sie könnten im Alleingang drei politische Entscheidungen für eine erfolgreiche Energiewende durchsetzen. Welche wären das?
Quaschning: Für mich sind das Aus für Öl- und Gasheizungen und das Ende des Verbrennungsmotors die wichtigsten Stellschrauben. Als Drittes müssen wir den Ausbau von Solar- und Windenergie so stark erhöhen, dass wir unsere Klimaschutzziele erreichen können. Und dabei dürfen wir nicht vergessen, diese Maßnahmen gut zu kommunizieren.
Sell: Wichtig sind Maßnahmen, die bei den Menschen ein Bewusstsein für eine nachhaltigere Lebensweise schaffen. Unsere Spaß- und Konsumgesellschaft ist in der heutigen Form nicht zukunftsfähig. Das CO2 muss einen höheren Preis bekommen und schließlich muss unsere Energiegesetzgebung im Sinne einer erneuerbaren und emissionsarmen Energieversorgung optimiert werden.
Wenn wir über Klimaschutz reden, geht es oft um Dinge, die nicht klappen. Lassen Sie uns das Gespräch hoffnungsvoll beenden: Was hat Ihnen zuletzt Mut gemacht?
Quaschning: Mich begeistern die Preise für Photovoltaik. Wir besitzen nun bezahlbare und markttaugliche erneuerbare Energien. Das war vor zehn Jahren undenkbar. Bei internationalen Ausschreibungen ist Photovoltaik mittlerweile wirtschaftlicher als jedes konventionelle Kraftwerk. Energiekonzerne setzen deswegen immer seltener auf Kohlekraftwerke. Das ist eine tolle Entwicklung.
Sell: Mir macht aktuell ein Thüringer Projekt besonders Mut. Im Stahlwerk Unterwellenborn gab es in der Vergangenheit viele erfolglose Versuche, die dortige Abwärme zu nutzen. Wir beschäftigen uns seit zweieinhalb Jahren mit diesem Projekt, haben eine Machbarkeitsstudie erstellt und die wichtigen Akteure der Region an einen Tisch gebracht. Alle sagen: Wir sind unserer Welt und unseren Kindern verpflichtet und finden einen Weg, die Abwärme zu nutzen. Solche Sätze zeigen mir, dass das Thema Klimaschutz immer mehr in den Köpfen der Menschen ankommt und sie etwas gegen den Klimawandel tun wollen.
Das Interview wurde im September 2020 geführt.